Seit Beginn der Industrialisierung findet Arbeit an einem dedizierten Ort fernab der eigenen vier Wände statt. Was im Rahmen von industrieller Arbeit mit großen Maschinen notwendig war, galt jahrzehntelang auch für Sektoren wie Verwaltung, Dienstleistung etc. Selbst als die Digitalisierung flexiblere Modelle denkbar machte, war am Modell Büroarbeit nicht zu rütteln. Arbeit war an einen Arbeitsort gekoppelt. Alle Veränderungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben der Arbeitnehmer:innen haben sich um dieses Postulat herum entwickelt.
Mit dem Ausbruch der Pandemie 2020 hat sich für viele Menschen gewissermaßen über Nacht das Arbeitsleben drastisch verändert. Viele von uns sehen ihre Kolleg:innen seit mehr als zwei Jahren lediglich als zappelnde Abbilder hinter einer Glasscheibe in Videokonferenzen. Homeoffice ist in vielen größeren und kleineren Unternehmen zum Standard geworden, klassische Arbeit vor Ort im Büro ist eher eine Ausnahme und weniger die Regel. Die bisherige, jahrzehntelange Entwicklung ist geradezu disruptiv unterbrochen und wir fragen uns: Wie wollen wir sie denn nun haben, die Arbeitswelt der Zukunft? Bleiben jetzt alle für immer in ihren Homeoffices? Kommen alle doch wieder zurück ins Büro und es ist alles so wie vorher? Was geschieht mit den Gewerbeimmobilien? Werden die Städte auch künftig weiterhin so attraktiv bleiben oder ist es in Zeiten von Remote-Arbeit nicht gleichgültig, ob man seine Arbeit aus der Peripherie erledigt und nicht aus dem Hipster-Viertel? Wird die Distanz zwischen Büro und Wohnort durch mobiles Arbeiten zum vernachlässigbaren Faktor?
Dieses Konvolut an Fragen treibt gegenwärtig viele Seiten um: Arbeitnehmer:innen, die wenig Lust verspüren, wieder Tag für Tag im Stop-and-Go-Verkehr mitzuschwimmen und damit viel Zeit auf Straße oder Schiene zu lassen. Unternehmen, die sich tatsächlich fragen, wie es mit den Bürostandorten, die in den vergangenen beiden Jahren meist weitgehend verweist waren, weitergehen soll.. Und nicht zuletzt auch die Politik in Form von Kommunen. Gerade ländliche Regionen beginnen in der pandemischen Entwicklung auch ihre Chancen zu erkennen und sich ein Profil zu geben als attraktive Wohn- und Arbeitsorte.
Expert:innenrunde: Digitalisierung als Chance für ländliche Regionen?
„Neues Arbeiten – Chance und Herausforderungen für Regionen abseits der Metropolen“ lautete somit auch der Titel eines Panels, welches acatech, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften im ersten Quartal 2022 virtuell an den Start brachte und Expert:innen aus verschiedenen Bereichen versammelte.
Anette Wiedemann von der acatech-Geschäftsstelle stimmte die Teilnehmer:innen zu Beginn mit einem Impuls aus der Befragung „Bayern denkt Zukunft“ ein. 4.000 Bürger:innen wurden zu verschiedenen Themenkomplexen mittels einer Online-Befragung quantitativ und weitere 54 Bürger:innen aus Bayern auch qualitativ im Rahmen von Workshops dazu befragt, wie Menschen in Deutschland in Zukunft leben wollen. Eines der Ergebnisse, mit Blick auf die Arbeitswelt: Die Digitalisierung wird durchaus als Chance für den ländlichen Raum gesehen, um in dünn besiedelten Regionen vermehrt Arbeitsplätze zu schaffen und Stadt und Land wieder besser miteinander zu vernetzen.
Katharina Hochfeld, Leiterin des Forschungsbereichs Innovation Responsible Research and Innovation bei Fraunhofer IAO sieht in der Form von Coworking-Spaces enorme Innovationspotentiale für den ländlichen Raum, um dort Orte der physischen Begegnung zu schaffen, die bislang den Städten vorbehalten waren. Unterschiedlichste Menschen aus verschiedenen Segmenten wie Unternehmen, Hochschulen, Verwaltung, Politik, Dienstleitung könnten dort mit Bürger:innen zusammengebracht und dadurch tatsächlich ein diverses Miteinander geschaffen werden.
DATEV eröffnet die dritte Dimension des Arbeitens
Für DATEVs Rainer Schubert, Leiter der Entwicklung von Arbeitswelten, hat das Homeoffice zwar viele Vorteile, etwa hinsichtlich der Nachhaltigkeit bei entfallenden Arbeitswegen oder der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Er sieht aber durchaus auch Nachteile: „Nicht jeder hat die besten Bedingungen, um von zu Hause aus arbeiten zu können. Und während sich unsere DATEV-Standorte zusehends zu Identifikationsorten und sozialen Treffpunkten entwickeln, an denen man den Geist unseres Unternehmens spürt, mit anderen Menschen kollaboriert und `in echt´ miteinander kommuniziert, eröffnen wir nun eine dritte Dimension des Arbeitens“. Mithilfe kooperierender Coworking-Spaces, zunächst in der Metropolregion Nürnberg, steht es allen DATEV-Kolleg:innen fortan frei, neben ihrem angestammten Büroarbeitsplatz einen „dritten Ort“ zu wählen, der professionell ausgestattet ist und der sich maximal in 15 Minuten Anfahrtszeit vom jeweiligen Wohnort befindet, so die ambitionierte Vision. Noch seien Coworking-Spaces in der öffentlichen Wahrnehmung insbesondere mit Freelancern verbunden, tatsächlich böten sie aber gerade für den ländlichen Raum unheimliches Potenzial, um wohnortnah attraktive Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, so Schubert.
Mangel an geeigneten Coworking-Spaces – Gründer:innen und Kommunen gefordert
Leider herrscht gegenwärtig im ländlichen Raum noch ein großer Mangel an Coworking-Spaces, so Schubert. Kommunen sind zögerlich, in Vorleistung zu gehen, nachdem nicht feststeht, wie das Angebot von Coworking Spaces tatsächlich angenommen wird. Unternehmen hingegen können wiederum nicht planen, da die benötigte Infrastruktur fehlt – ein klassisches Henne-Ei-Szenario. Sein dringender Appell in Richtung von Politik und Betreiber von Coworking-Spaces: „Gerade jetzt gilt es, das Momentum zu nutzen, um Strukturen und Coworking-Angebote zu etablieren, bevor das Pendel wieder zurückschlägt und die Menschen wieder in die Büros zurückgekehrt sind. Denn dann wäre eine große Chance mit Blick auf eine neue Arbeitswelt vertan. Und auch eine Chance für strukturschwache, ländlich geprägte Räume.“
Neues Leben für die Dorfmitte
Hans-Peter Sander, Coworking-Praktiker vom Ammersee Denkerhaus warb unterdessen dafür, keine sterilen Coworking-Zonen zu etablieren, sondern diese intelligent mit dem Ortsgeschehen zu vernetzen: „Hybride Ansätze sind am erfolgversprechendsten. Es geht nicht darum, ein Ufo in einem Ort einfliegen zu lassen, das als Fremdkörper verbleibt, sondern ein Coworking-Angebot mit einem Dorfladen, mit einer Kaffeerösterei, mit einem Bistro, einer Bibliothek oder einem Bürgerhaus zu koppeln, so dass eine neue Dorfmitte entsteht und Leben in die Ortskerne zurückkehren kann.“
Großes Entwicklungspotenzial für den ländlichen Raum
Wohin auch immer sich die Arbeitswelt von morgen entwickelt, bei der Diskussion wurde deutlich, dass wir uns gerade an einer interessanten Schwelle befinden und das „weiter so“ vergangener Jahrzehnte keinen Bestand haben wird. Es gilt, das aktuelle Momentum zu nutzen und so für alle Beteiligten eine neue attraktive Arbeitswelt aktiv zu prägen. Coworking Spaces könnten dabei ein intelligenter Baustein sein, den man in die Konzeption mit einbeziehen kann – sofern zeitnah genügend Strukturen aufgebaut werden. Gerade für den ländlichen Raum schlummert hier großes Potenzial, gaben sich die Expert:innen der Panel-Runde überzeugt.